Drop-outs, Systemsprenger, verhaltensauffällig. Sie haben viele Namen und eins gemein: Den Widerstand, den sie leisten, auf der Suche nach etwas, das sie nie bekamen.
von Hannah Ludmann und Sabrina Meier
An ihrem Hals ist heute keine Kette zu sehen, sondern Würgestellen. Wenn Lisa zur Arbeit fährt, ist da nicht nur Freude, sondern manchmal auch Sorge und Ungewissheit, erzählt sie leise. Lisa heißt nur in diesem Text Lisa und eigentlich anders. Seit neun Jahren arbeitet sie in einer sozialtherapeutischen Wohngruppe in Wien. Dort wohnen sechs Jugendliche mit schweren Verhaltensauffälligkeiten. Sie leben schon lange nicht mehr bei ihren Eltern, wurden von Schulen suspendiert und aus Wohngruppen ausgeschlossen. Institutionen sind oft überfordert mit ihnen. Diese Kinder nennt man umgangssprachlich auch Systemsprenger. Dass sie sich den Regeln widersetzen, „steht auf der Tagesordnung”, berichtet Lisa. Dieser Widerstand kann auch in Gewalt enden, auch in Gewalt an den Betreuer:innen – das weiß sie aus eigener Erfahrung.
Abnahmegrund: Verwahrlosung
In der Einrichtung von Lisa hat jedes Kind eine Betreuerin oder einen Betreuer als Bezugsperson, ein eigenes Zimmer und jedes Kind hat Traumata erfahren, die so schwerwiegend sind, dass sie kaum zu begreifen sind. “Es ist unfassbar, was Eltern ihren Kindern antun können”, sagt Lisa. In der Fachsprache heißt das “Abnahmegrund: Verwahrlosung”, der häufigste Grund, warum ein Kind nicht bei seinen Eltern aufwachsen kann. Sobald das Jugendamt die Situation in der Familie für zu gefährdend einschätzt, folgt die Unterbringung in einem der Wiener Krisenzentren. Doch dort können sie meist aber nur wenige Monate bleiben. Danach müssen sie weiter. Nur ein Teil dieser Kinder wird als “sprengend” für die Gruppe bezeichnet. In Wien geht man von ungefähr sechs bis zwölf Kindern pro Jahr aus, die selbst Expertinnen und Experten überfordern. Genaue Zahlen liegen der Kinder- und Jugendhilfe nicht vor, auf Anfrage bestätigt sie, dass sie keine Statistik zu systemsprengenden Kindern führe.
Traumatisierung bei den Jüngsten
Im Büro von Magdalena Wolf hängen bunte Plakate an den Glasscheiben. Kinderbücher füllen die Regale und bringen Farbe in den grauen Novembertag. Wolf ist Pädagogische Leiterin des SOS Kinderdorf, leitet zwei Wohngruppen und hat jahrelange Erfahrung als Sozialpädagogin in Wien. Sie berichtet von überfüllten Krisenzentren, zu großen Gruppen und steigenden Zahlen der Gefährdungsmeldungen. Und auch davon, dass die Traumatisierung der Kinder in den letzten Jahren stärker geworden ist. Der ständige Wechsel zwischen Schule, Krisenzentrum, Krankenhaus und Wohngruppen verschlimmert die Situation der Kinder, die sowieso schon kaum Halt haben, anstatt sie zu stabilisieren. Besonders dann brauche es mehr individuelle Betreuung. Dafür fehlt in den Einrichtungen aber das Personal. Manchmal sagt Wolf, verzweifelt sie am System.
Magdalena Wolf
Pädagogische Leiterin SOS Kinderdorf
© Hannah Ludmann
Widerstand als ständiger Begleiter
Und die Kinder – scheitern sie am System oder das System an den Kindern?
“Das System an den Kindern”. Den Begriff “Systemsprenger” sieht Wolf dennoch kritisch, denn „was bleibt denn dann für die Kinder, wenn das System nicht mehr da ist?”. Was bleibt, ist der Widerstand. Wolf begreift diesen auch als Ausdruck schwerer Loyalitätskonflikte der Kinder. Eine Fremdunterbringung sei immer auch eine weitere Traumatisierung, deswegen richte sich der Widerstand gegen das System, was versucht, ihnen zu helfen und sie vor den eigenen Eltern zu schützen. Das sei für viele Kinder schwer nachzuvollziehen.
Menno Baumann, Professor für Intensivpädagogik an der Fliedner-Fachhochschule Düsseldorf, sieht in diesem als sprengend interpretierten Verhalten eine entwicklungs- und überlebenswichtige Funktion für das jeweilige Kind. Was das konkret bedeutet, hat Lisa selbst miterlebt. Sie erinnert sich an einen 15-Jährigen in ihrer Wohngruppe, der sozial- und körperlich mehrere Jahre zurücklag, sprach und interagierte, wie ein 6-Jähriger. In der Wohngruppe wurde er mit Hilfe der Betreuenden wieder aufgebaut. Es gibt aber auch Beispiele von Jugendlichen, die nach einer positiven Entwicklung wieder in alte Verhaltensweisen zurückfallen. Wegen ständiger Streitereien und Schlägereien mussten die Betreuenden sie trennen. Nach der Trennung der Brüder entwickelte sich der Junge überdurchschnittlich gut. Die Beziehungsarbeit mit den Pädagog:innen, das Verhältnis zu anderen Kindern und seine schulischen Leistungen verbesserten sich, während sein Bruder in die Delinquenz rutschte. Als die Geschwister wieder Kontakt aufnahmen, kippte das Verhalten des Jungen erneut ins Negative – mit WG-Terror als Folge. Sie bedrohten Mitarbeiter:innen und Kinder und drohten, die WG anzuzünden. Auf den Widerstand folgte der Ausschluss aus der Wohngruppe.
Zwischen fliegenden Sesseln und Umarmungen
Wenn es in der WG wirklich gefährlich für sie und die Kinder wird, ruft sie die Polizei. Es gibt auch Tage, an denen sie nicht zur Arbeit fahren darf, um sich selbst zu schützen. Aber
„Angst zeigen geht nicht. Wenn ich das nicht aushalten würde, dann könnte ich in so einer bunten Mannschaft nicht arbeiten.“
– Lisa
Um das zu reflektieren, gibt es Mitarbeitergespräche im Zweiwochentakt, die Stabilität im Team gibt ihr Halt. Lisa beschreibt ihren Beruf als ein großes Auf- und Ab der Emotionen. Zwischen Angst und Bindung gibt es gefährliche Momente genauso wie schöne Momente. Die Arbeit an der Bindung zu den Kindern sei das Schönste und gleichzeitig das Herausforderndste an ihrem Beruf. Bei Magdalena Wolf ist das ähnlich. Vor allem Abendrituale, gemeinsame WG-Ausflüge und der Fortschritt in den Beziehungen zu den Kindern wie auch zu deren Eltern zählen für sie zu den schönen Seiten des Jobs.
Mangel im Überfluss
Neben den Hürden und Hoffnungsschimmern des Alltags verbirgt sich dennoch ein Fehler im System. Fehlende finanzielle Ressourcen und Personalmangel prägen den sozialen Bereich seit Jahren. Man müsse laut Magdalena Wolf bereits viel früher in der Entwicklung eines Kindes ansetzen und mobile Angebote anbieten. So könne man noch in den Familien Unterstützung leisten und im besten Fall eine Fremdunterbringung verhindern.
“Aber das System steht halt seit Ewigkeiten da, wo es steht. Das kann einen zur Verzweiflung bringen, weil man einfach weiß, das Kind würde gerade so viel brauchen und ich kann es ihm aber nicht geben, weil da noch sieben andere herumschwirren, die was von mir brauchen.”
– Magdalena Wolf
In sozialtherapeutischen Wohngruppen hingegen wird versucht, die Anzahl der Kinder so niederschwellig wie möglich zu halten. Aber auch Lisa betont den Mangel an Geld, um den Betreuungsschlüssel besser gestalten zu können. Andrea Friemel, Pressesprecherin der Wiener Kinder- und Jugendhilfe blickt dennoch zuversichtlich auf die Situation: „In Österreich sind die Standards in der Kinder- und Jugendhilfe hoch, und gerade in Wien können wir auf einem sehr guten fachlichen Niveau mit sehr engagierten Kollegen und Kolleginnen die Aufgaben des Kinderschutzes wahrnehmen.“ Lisa nimmt den letzten Schluck Kaffee, zieht die Jacke zu und lächelt. Morgen muss sie früh raus, die Kinder warten.