Editorial

Gayatri Malhotra
Gayatri Malhotra

von Martin Zimmermann

Vive la résistance – es lebe der Widerstand! Widerstand leisten, dagegen sein, sich gegen etwas auflehnen – die Menschheitsgeschichte ist geprägt vom Dagegen sein, von Revolten und Umstürzen. Revolte gegen den Status Quo, aber auch gegen das Neue, das Große, das, was man nicht einsehen und akzeptieren möchte. Hauptsache dagegen hieß es im Punk der 1970er Jahre, Hauptsache anders, Hauptsache nicht sein wie die. Individualismus gegen das totalitäre Gleichschalten. Doch hat der bloße Widerstand an sich überhaupt eine Substanz? Oder wird er gefüllt mit allen möglichen Anlässen, die sich dazu bieten, gegen etwas vorzugehen. In unserem Magazin haben wir uns diese Frage gestellt und versucht, dieses starke Wort aus verschiedenen Perspektiven, Blickwinkeln und Ecken heraus zu beleuchten, zu erfüllen und zu begreifen. 

Dabei ist ein weit gespannter Bogen entstanden. Er reicht von besetzten Häusern, bis hin zur Botanik des Wienerwalds. Beginnen wir klassisch beim Widerstand auf der Straße. Und mit auf der Straße ist in diesem Fall eine vierspurige Hauptverkehrsstraße gemeint. Denn Hannah Neudeck war hautnah bei den Aktivist:innen der „Letzten Generation“ dabei. Sie berichtet davon, was es heißt, wenn bloße Demonstrationen für mehr Klimagerechtigkeit zu wenig sind, wenn Aktivist:innen Strafen und auch Gewalt riskieren, um auf eine der größten Katastrophen unserer Zeit aufmerksam zu machen.

Wir bleiben beim Klimawandel und seinen Folgen. Felix Mährenbach widmet sich in seinem Artikel jenem Baum, der aktuell noch das Bild des Wienerwalds dominiert – der Rotbuche. Dieser Baum führt einen stillen, aber bedeutsamen Kampf gegen den menschengemachten Klimawandel. Welche Perspektive bleibt der Buche, wenn es langsam aber sicher zu warm wird im Wald? Die Auswirkungen dieses Prozesses beleuchtet der Autor hier im Gespräch mit Expert:innen.

Eine sensible und schützenswerte Gruppe sind hier Kinder. Sabrina Meier und Hannah Ludmann widmen sich dem nicht unumstrittenen Begriff der „Systemsprenger“ und damit jenen Kindern, die durch ihr Verhalten in Betreuungseinrichtungen oftmals durch jedes Raster zu fallen zu scheinen. Der Artikel gibt einen Einblick, der unter die Haut geht. Ohne Beschönigung werden Schicksale thematisiert, für die die Möglichkeiten der Unterbringungen in Österreich nicht genügen. Kinder, die Widerstand leisten, gegen jene, die um ihr Schicksal bemüht sind. Die Autorinnen wollen Antworten auf die Frage finden, warum ein System an Kindern scheitern kann und wie der Umgang mit diesem Phänomen von Sozialpädagog:innen in Österreich erlebt wird.

Wir bleiben beim Thema Unterbringung und Wohnen. Wien ist und bleibt auch im Jahr 2023 eine Vorzeigestadt in Bezug auf leistbares Wohnen. Doch Teuerung, Mieterhöhung und Energiekrise sind auch hier spürbar. Viele Menschen können sich ihre Wohnungen nicht mehr leisten. Wie drastisch ist die Situation und was können diese Menschen tun, um sich gegen die steigenden Kosten zur Wehr zu setzen? Damit beschäftigen sich Luca Niederdorfer und Simon Weiß.


Eine andere Ausrichtung des Widerstands behandelt der Artikel „Willkommen im Königreich Deutschland“ von Mario Pichler und Martin Zimmermann. Im Gespräch mit einem ehemaligen Staatsverweigerer, der sich der sektenähnlichen Gruppierung in Sachsen anschloss, geben sie einen Einblick gegeben in eine Parallelgesellschaft aus Reichsbürgern, Schwurblern und Aussteigern, vollgepackt mit „alternativen Fakten“.

Wir wandern vom Widerstand gegen den Staat zum Kampf gegen die Leistungsgesellschaft. Das Phänomen „Quiet Quitting“ ist, spätestens wenn es um die viel diskutierte Generation Z geht, schnell in aller Munde. Verabschieden wir als Gesellschaft uns von der Vorstellung, beim Arbeiten über unser Limit hinauszugehen? Ein Thema, das nicht weniger als einen Generationenkonflikt anspricht, behandeln Katharina Ressl, Lisa Marie Wögerbauer und Anke Mandl in ihrem Beitrag.

Beim Thema Widerstand gibt es viele aktuelle Beispiele. Im letzten Sommer oftmals präsent war der Streik in der Klinik Ottakring. Außerdem folgte ein wienweiter Protestmarsch der Spitalsärzt:innen im vergangenen Dezember. Doch ein Streik in einem Krankenhaus – kann so etwas überhaupt sein? Und wenn ja, wie leistet man Widerstand in so einer sensiblen und gleichzeitig unglaublich wichtigen Situation. Magdalena Bauer hat nachgefragt und liefert mit ihrem Audiobeitrag spannende Einblicke in das nicht immer unumstrittene österreichische Gesundheitssystem.

Wir bleiben bei sensiblen Themen. Emily Patek und Anna Luise Muhr setzen sich in ihrem Beitrag mit Schwangerschaftsabbrüchen auseinander – ein Thema, das immer noch von gewissen Gruppen als kontrovers betrachtet wird. Die Autorinnen haben mit verschiedenen Initiativen gesprochen und zeichnen so ein detailliertes Stimmungsbild einer oftmals aufgeheizten und öffentlich geführten Debatte. Das Besondere an der Arbeit der beiden Journalistinnen? Der Beitrag ist in Audioform entstanden und gibt so die Debatte in all ihren Aspekten noch näher und authentischer wider, als ein geschriebener Text das könnte.

Nicht immer einer Meinung ist man selbst in der Wissenschaft. Denn wenn es um beispielsweise Klimaproteste geht, heißt es manchmal auch, Wissenschaft gehöre auf die Uni und nicht auf die Straße. Die Initiative „Scientists for Future“ vermittelt hier jedoch einen anderen Eindruck und ruft zum Handeln und Demonstrieren auf. Eva Maria Steinkopf und Clemens Schreiber widmen sich einem Thema, das wohl auch in Zukunft nichts an Relevanz einbüßen wird.

Last but not least behandelt Nicolas Scheikl ein politisch hochaktuelles Thema. Denn Menschenfeindlichkeit, Rassentrennung und Remigration – das sind nicht etwa Begrifflichkeiten aus dem Zweiten Weltkrieg. Das sind Themen, die uns 2024 noch beschäftigen, wie ein von Correctiv aufgedecktes Treffen von Rechtsradikalen im November 2023 zeigt. Die Konsequenz: Millionen Personen protestieren in den vergangenen Wochen gegen Rechts. Der Autor liefert Eindrücke von großen Protesten zu der Angelegenheit in Österreich, nämlich in Wien und in Graz.

Viel Spaß beim Lesen und Hören wünscht Ihnen der Jahrgang Journalismus 2025 der Fachhochschule Wien der WKW.