Der Kampf um einen Platz zum Leben

Wien gilt als Musterstadt des sozialen Wohnbaus. Dennoch ist das Dach über dem Kopf auch hier für viele Menschen nicht leistbar. Aktivist:innen versuchen, Abhilfe zu schaffen.

von Luca Niederdorfer und Simon Weiß

Der Karl Marx Hof in Wien-Heiligenstadt. Ein Sinnbild für den sozialen Wohnbau des roten Wiens.
Foto: Luca Niederdorfer

Schimmel neben dem Bett, Wasserflecken an der Decke, Heizkörper die aus der Wand brechen. Für viele Menschen sind das im schlimmsten Fall einmalige Erlebnisse. Andere schlagen sich täglich mit solchen Vorfällen herum. Auch in Wien, eigentlich einer Vorzeigestadt des sozialen Wohnbaus, leben viele Menschen in prekären Verhältnissen. Am privaten Wohnungsmarkt schießen die Mietpreise durch ständige Indexanpassungen in die Höhe. Zusätzlich machen die steigenden Energiepreise das Wohnen noch einmal teurer. Doch Probleme gibt es nicht nur am privaten Wohnungsmarkt. Regina Amer hat einen Großteil ihres Erwachsenenlebens in Gemeindewohnungen der Stadt Wien gelebt. „Meine erste Wohnung war eine Gemeindewohnung im 11. Bezirk mit 40m². Nach drei Kindern und mit Ehemann ist es dann ein bisschen knapp geworden. Wir haben dann gewechselt und eine Fünf-Zimmer-Wohnung bekommen”, erinnert sich Regina. Dort kamen dann aber zum ersten Mal Probleme auf. “Die Kinder haben mehr oder weniger mit mir im Wohnzimmer geschlafen, weil in zwei von drei Kinderzimmern Schimmel war”. Regina und ihre Familie mussten erneut eine Wohnung suchen. 

Später, als ihre Kinder ausgezogen waren, zog Regina wieder in eine eigene Wohnung. Diese wurde aber bereits nach wenigen Jahren aufgrund einer auslaufenden Förderung auf einen Schlag fast doppelt so teuer. Regina musste wieder umziehen, diesmal in den 16. Bezirk. Zu der Zeit musste sie sich jedoch um ihren Freund kümmern, der im Sterben lag, kam mit Rechnungen in Verzug und verlor ihre Wohnung. Nach zwei Wochen in einer Notschlafstelle, konnte sie in eine sogenannte Notfallwohnung der Stadt Wien ziehen. Die Probleme, die sie aus ihren bisherigen Wohnungen kannte, waren dort nur noch schlimmer. Großflächiger Schimmel neben dem Bett wurde von Wiener Wohnen als ‘Verfärbung der Wand’ abgetan. “Der Gutachter hat dann gesagt das liegt an mir, weil ich nicht richtig lüfte”, erzählt Regina. “Ich war dann bei der Mieter:innenberatung und die haben diese Ausrede schon gekannt. Das kommt von denen immer, haben sie gesagt”. Auch ihre Nachbar:innen erzählten Regina, dass sie nicht die Erste gewesen sei, die mit dem Schimmelbefall zu kämpfen hatte. In eine andere Gemeindewohnung konnte Regina dennoch nicht. Wiener Wohnen hat ihr keinen Wechsel mehr bewilligt. 

Regina Amer kämpft seit Jahrzehnten um ein menschenwürdiges Zuhause
Foto: Luca Niederdorfer

Mieter:innen, vereinigt euch!

Die Hürden des Wohnungsmarktes sind für finanziell schwächere Personen schon lange groß. In den letzten Jahren ist das Problem in die Mitte der Gesellschaft gerückt. Immer mehr Menschen können sich das Leben in Wien nicht mehr leisten. Auf dieses Problem möchte die Initiative en commun aufmerksam machen. Im Frühjahr 2022 besetzte eine Gruppe von Aktivist:innen ein Haus in der Wiener Mariannengasse, um die prekären Wohnsituationen von vielen Wiener:innen aufzuzeigen. Teuerung, Mieterhöhung, Delogierungen und Wohnungslosigkeit trieben den Protest an. Durch die Covid-Pandemie, haben sich diese Probleme noch verschlimmert. “Wir wollten damals auch aus linker Perspektive Kritik an den Covid-Maßnahmen üben. Leute waren auf engstem Raum in ihren Wohnungen zusammengepfercht und sind in Armut gefallen. Mit der Besetzung wollten wir darauf aufmerksam machen, dass die Menschen mehr Platz zum Leben brauchen”, erzählt uns Mona. Sie ist seit Beginn an bei en commun aktiv. “Wohnen ist ein Thema, das alle betrifft und das man tagtäglich spürt und es spiegelt viele gesellschaftliche Verhältnissen wider. Das ganze System, das dahintersteckt, muss sich verändern. An diesem Thema kann man gut sichtbar machen, was in der kapitalistischen Gesellschaft falsch läuft”, sagt Mona. Eine Forderung von en commun ist, dass mit Wohnraum keine Profite gemacht werden dürfen. Wohnen sei ein Grundbedürfnis und sollte nichts kosten, sondern Menschen einfach zur Verfügung gestellt werden. Dementsprechend soll die Spekulation mit und der Leerstand von Wohnraum abgeschafft werden. “Wohnraum darf keine Spekulationsmöglichkeit sein. Wenn man sich ansieht, dass so viele Menschen auf der Straße oder auf engstem Raum in kleinen Wohnungen leben müssen, obwohl so viel Wohnraum verfügbar wäre, gibt es keinen akzeptablen Grund für Leerstand”, sagt Mona zu dem Thema.  

Die Aktivist:innen von en commun wissen sehr gut um die schwierigen Wohnverhältnisse vieler Menschen Bescheid. Ihre Hauptarbeit besteht darin, Mieter:innen zusammenzubringen. “Wir gehen dafür in Häuser, reden mit den Menschen und versuchen sie zu vernetzen. Vor allem bei Immobilienunternehmen, die dafür bekannt sind, dass sie Leute in prekären Verhältnissen wohnen lassen. Dort organisieren wir zum Beispiel Nachbarschaftstreffen”, erklärt Mona die Arbeit von en commun. Die Vernetzungsarbeit bringt laut Mona viele Herausforderungen mit sich: “Dadurch, dass die Menschen eh schon in prekären Situationen sind, müssen sie meistens sehr viel arbeiten und haben keine Zeit für solche Treffen. Es gibt außerdem oft Sprachbarrieren zwischen den Mieter:innen”. Trotz der Hürden gibt es aber immer wieder auch Erfolge für Mieter:innen, die sich en commun aber nicht anheften will. “Wir haben nichts geschafft. Die Leute in den Häusern haben es geschafft sich zu vernetzen und miteinander zu reden und etwas zu verändern. Wir sind nur dafür da, zu zeigen, dass es vielen gleich schlecht geht und einen Anstoß zu geben”, erklärt Mona und fügt hinzu: “Die Leute wissen meistens nicht, wie die Situation ihrer Nachbar:innen ist. Es passieren zum Beispiel in Wien im Schnitt sieben Zwangsräumungen pro Tag. Wenn du weißt, dass das in deinem Haus jemanden betrifft, dann ist dir das vielleicht schon weniger egal. Deswegen müssen die Leute miteinander reden und solidarisch sein”.


Das rote Wien

In den Jahren 2010 bis 2019 gab es 47.100 Zwangsräumungen in Österreich, rund 13 pro Tag, geht aus einer Studie der TU Wien hervor. Gut die Hälfte davon fand in Wien statt. Dabei ist Wien für leistbares Wohnen bekannt und die Mieten sind im Vergleich mit anderen europäischen Großstädten sehr günstig. Zurückzuführen ist das auf eine inzwischen hundertjährige Geschichte des sozialen Wohnbaus. Bereits in den 1920ern wurde in Wien mit der Errichtung von Gemeindebauten begonnen und laut Homepage der Stadt wohnen heute ca. 60% der Wiener:innen im geförderten oder sozialen Wohnbau. Laut en commun wird die Situation aber schlechter und die Stadt schmücke sich mit den Federn des historischen Roten Wiens. Eine Sichtweise, die Stadtplaner Kurt Hofstetter nicht teilt. Hofstetter war unter anderem Leiter der Stadtteilplanung und Flächennutzung für den Nordosten Wiens sowie Leiter der Landschaftsplanung für Gesamtwien. Außerdem war er maßgeblich an der Planung des Wohnbauprojekts Seestadt beteiligt. „Sich ausruhen sieht anders aus. Da würde man nämlich nichts machen, dann hätten wir in den letzten Jahren und Jahrzehnten nichts weiterbekommen“, sagt Hofstetter. Wien stehe im internationalen Vergleich „sehr gut“ da, wenngleich er verstehen könne, dass Menschen dennoch unzufrieden seien. Projekte für leistbares Wohnen gebe es aber jede Menge: „Allein was Smart Wohnungen anlangt, also Wohnungen mit hoher Alltagstauglichkeit bei günstigen Mietpreisen, geht einiges voran. Die Wohnungen sind preislich mit Gemeindewohnungen zu vergleichen und Ziel ist es, mit geringen Eintrittshürden den Zugang zu leistbarem Wohnen zu schaffen“, erklärt der Stadtplaner. Der Anteil an Smart-Wohnungen sei in den letzten Jahren auf 50% der Neubauten gestiegen. „Diese Maßnahme ist sehr wirksam. Da kann man das „schmücken mit irgendetwas“ nicht gelten lassen“, ergänzt Hofstetter. Als weitere Maßnahme nennt er etwa die Neubauverordnung, welche gemeinnützigen Bauträgern höhere finanzielle Unterstützungsmittel zusichert, um damit leistbaren Wohnraum zu schaffen. Leistbar bedeutet grundsätzlich, dass nicht mehr als ein Drittel des zur Verfügung stehenden monatlichen Einkommens für das Wohnen bezahlt werden muss. 


Wohnungen sind zum Wohnen da

Wieso aber überhaupt neue Gebäude bauen und zusätzlich Boden versiegeln? Aus einer Analyse der Registerzählung des Momentum Instituts geht hervor, dass jede zehnte Wohnung in Wien leer steht, respektive niemand in diesen gemeldet ist. Ein Umstand, den auch Aktivist:innen kritisieren. Und dem sich Hofstetter anschließen kann: „Natürlich ist es sinnvoll sich dafür einzusetzen, dass leerstehende Wohnungen als Wohnraum genutzt werden. Deshalb gibt es seit vier Jahre auch die Widmungskategorie geförderter Wohnbau.“ Diese Widmungskategorie sieht vor, dass zwei Drittel der Wohnungen in neu errichteten Wohnbauten zu geförderten und leistbaren Konditionen zur Verfügung gestellt werden müssen. Das restliche Drittel darf man beliebig nutzen – auch als unbewohntes Anlageobjekt. Das ist für Hofstetter zwar „Unfug“, lasse sich aber nicht verhindern.

Kurt Hofstetter – Stadtplaner für Wien
Foto: Wohnservice Wien – C.Dusek

Eine Maßnahme, gegen Spekulation mit leerstehenden Wohnbauten ist eine Leerstandabgabe. Bereits umgesetzt ist sie in der Steiermark, Salzburg und Tirol. Wer hier Wohnraum schafft, diesen aber nicht vermietet, muss eine Abgabe an die entsprechende Gemeinde bezahlen. Die Höhe dieser Abgabe wird vom jeweiligen Gemeinderat bestimmt. In Wien läuft über eine derartige Maßnahme erst eine Debatte. Sinnvoll wäre sie, meint Hofstetter: „Jede Stimulierung, um Wohnungen wieder bewohnbar zu machen, ist gut.“ Es möge viele Gründe geben, weshalb Gebäude gerade nicht genutzt würden: „Aber grundsätzlich denke ich, dass es wichtig ist, Anreize zu schaffen, mit mehr oder weniger Druck verbunden, um Wohnungen einfach bewohnbar zu machen. Dafür sind sie da“.  

Monas Ansicht, dass Wohnraum allen Menschen kostenlos geboten werden sollte, sei allerdings „eine Träumerei“. In einem stimmt er der Aktivistin jedoch zu: Die Notwendigkeit, möglichst breiten und hürdenfreien Zugang zu leistbarem Wohnen zu bieten. „Wohnen ist ein Menschenrecht, das steht auch in der UNO-Menschenrechtscharta. Wir sind sehr bemüht, uns genau daran zu orientieren, wenn wir sagen, dass Wohnen nicht an den Aktienmarkt gehört. Das ist etwas, das den Menschen zur Verfügung stehen muss. Das ist das Ziel der Stadt Wien”, sagt Kurt Hofstetter.  

Regina hat inzwischen auf eigene Faust eine neue Wohnung gefunden. Ihre Tochter Sarah hat sie auf eine günstige Genossenschaftswohnung aufmerksam gemacht. Sie will sich jetzt dafür einsetzen, dass leistbares und menschenwürdiges Wohnen allen ermöglicht wird. 2018 gründete zusammen mit ihrer Tochter das Projekt HOPE Austria. Das Ziel: Auf die Situation wohnungsloser Menschen aufmerksam zu machen. Regina sieht die beste Chance auf Veränderung darin, miteinander zu reden und zusammenzuhalten. “Die Leute müssen sich zusammensetzen und miteinander reden. Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass sich etwas verändert. Denkt an die Arbeiter:innenaufstände oder die Frauen, die aufgestanden sind und gesagt haben, dass sie es sich nicht mehr gefallen lassen. Das müssen die Leute wieder tun”, meint Regina. Ihr persönliches Ziel hat sie nun zumindest erreicht. Auf über 50m² kann Regina nun endlich zur Ruhe kommen und ihre Pension genießen. Ihr Herzstück ist der Balkon. “Da kann ich dann am Abend in meinem Schaukelstuhl sitzen, eine rauchen und einfach nur nachdenken. Herrlich”, meint sie mit einem Lächeln und sagt noch “Ich finde jeder sollte das Recht haben, so zu wohnen. Das sollte das Minimum sein”.